Samstag, 1. Juni 2024

Familienbande

Im Zuge der Reisevorbereitungen hatte mich mein Bruder Shenja gefragt, ob wir in Minneapolis vorbeikommen werden und - falls ja - ich vorhabe, die dort ansässige Familie zu besuchen. 

Familie in Minneapolis? Darüber brauchte ich erstmal ein ausgiebiges Briefing. Shenja beschäftigt sich seit vielen Jahren mit unserer Familiengeschichte; er durchforstet uralte Kirchenverzeichnisse und Archive, studiert Briefe und Dokumente, entziffert alte Schriften und hat sogar ein Buch darüber geschrieben. 

Mein Großvater, Jahrgang 1911, hatte mit uns nie über seine Jugendjahre gesprochen. Wir wussten nur ganz allgemein, dass er und seine jüdische Familie von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Aber das ganze Ausmaß, insbesondere dass über 30 Familienmitglieder in den Ghettos und Konzentrationslagern von Riga und Theresienstadt umgebracht wurden, war mir bislang nicht bekannt. Auch dass es sein Onkel Sigmund und dessen Familie gerade noch rechtzeitig geschafft hatten, der Deportation und Ermordung durch die Nazis zu entkommen und nach Südafrika zu fliehen, erfuhr ich erst durch die Recherchen von Shenja. 

Sigmund ist nach dem Krieg von Südafrika in die Vereinigten Staaten übergesiedelt, und seine Nachfahren, Judy-Ann und Robin, leben mittlerweile in den Twin Cities Minneapolis/St. Paul; Shenja steht mit ihnen in losem Kontakt.

Nach einer kurzen Rücksprache mit Matti war klar, dass ich die beiden auf jeden Fall kennenlernen wollte und wir die Twin Cities in unsere Reiseplanung aufnehmen werden. Über Shenja wurde der E-Mail-Kontakt zu Judy-Ann hergestellt, die uns kurzerhand ein Zimmer in ihrem Keller anbot. Sie erzählte uns später, dass ihre Freundinnen sie gefragt hatten, ob sie noch ganz bei Trost sei, allein in ihrem Haus lebend, zwei wildfremde Männer bei sich aufzunehmen (es könne ja jeder kommen und mal eben behaupten, man sei miteinander verwandt. Bei Lichte betrachtet haben die Freundinnen damit auch nicht ganz unrecht. Aber es ist ja alles gut gegangen). 

Insofern reisten wir am Mittwoch Nachmittag bei ihr an, besorgten vorher noch schnell ein paare Biere, saßen bei strahlendem Sonnenschein und selbst-gebackener Pizza in Judy-Anns Garten, glichen unsere Lebensläufe im Schnelldurchlauf miteinander ab und gingen mit Aiden, ihrem Irish-Terrier, (unerlaubterweise) auf dem örtlichen Golfplatz Gassi. Die Chemie stimmte sofort, ich hatte das Gefühl, dass wir uns schon ewig kennen und nur eben mal etwas aus den Augen verloren haben. Ich glaube, Judy-Ann erging es ähnlich. 

Als sehr bewegend empfand ich den Austausch über die vielen kleinen Details in unserer Familiengeschichte. Judy-Ann gab mir ein Buch, das ihre Mutter über die Flucht, aber auch die Deportation der Großmutter geschrieben hatte, zum Lesen (wer Interesse hat, bitte kurze Nachricht in die Kommentare. Ich schicke dann gern eine PDF-Kopie zu). Und ich konnte meinerseits - dank Shenja - nicht nur den Familienstammbaum entästeln, sondern über das Schicksal der einzelnen Familienmitglieder berichten und sogar Fotos vorzeigen. 

Wir lagen so gut im Zeitplan, dass wir es uns leisten konnten, drei Tage in St. Paul zu bleiben. Am Donnerstag fand bei Judy-Ann der allmonatliche Buchklub statt. Den überbrückten wir mit einem Major-League-Baseballspiel zwischen den Minnesota Twins und den Kansas City Royals, das die Heimmannschaft, von uns leidenschaftlich bejubelt (und in völliger Unkenntnis der Regeln), gewann. Anschließend fuhren wir noch eine ausgedehnte Runde durch das Umland von Minneapolis, entlang der zahlreichen Seen (Minnesota trägt den Beinamen „Land der zehntausend Seen“), an deren Ufern die Schönen und Reichen mit ihren Häusern - nein, Villen - nein, Palästen - Schönheit und Reichtum eindrucksvoll zur Schau stellen. Unser ganzes schweres Gepäck hatten wir in St. Paul gelassen, und unsere treuen Gefährten wedelten ganz leichtfüßig durch die wenigen Kurven! Rechtzeitig zum allabendlichen Gassi über den Golfplatz waren wir wieder zurück. Und wurden darüber unterrichtet, dass wir das Haus während Judy-Anns Abwesenheit ohne den uns zugeteilten Schlüssel und bei sperrangelweit geöffneter Haustür verlassen hatten. 😬

Für den nächsten Tag hatten wir einen Besuch des Minneapolis Institute Of Art, eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Stadt, eingeplant. Vorher gab es noch ein gemeinsames Frühstück, bei dem Matti betonte, wie sehr er doch selbst-gebackene Scones mag. Das Frühstück wurde augenblicklich eingestellt: „Ihr wollt Scones?“ Umgehend suchte Judy-Ann alle Zutaten zusammen und begann, Scones für uns zu backen. Dabei meinte Matti eigentlich die English Muffins, die sie schon am Vortag für uns gebacken hatte und von denen ich mir gerade eines schmieren wollte. Was mir angesichts der wenig später bereits im Backofen duftenden Scones unmissverständlich untersagt wurde (was zudem kein Problem sein konnte, da ich ja gerade erst erwähnt hatte, normalerweise ohnehin nicht zu frühstücken) 😉. 

Das Museum war den Besuch uneingeschränkt wert, wenngleich wir es in den zweieinhalb Stunden, nach denen der Aufmerksamkeitsvorrat erschöpft war, gerade einmal geschafft hatten, einen Teil der Ausstellung zu besichtigen. Anschließend liefen wir noch anderthalb Meilen durch das Mexikanische Viertel zum nächsten Weinhändler, um für das geplante Abendessen, zu dem auch Robin und seine Ehefrau kommen wollten, den Riesling zu besorgen. Uns fiel erst nach einigen Minuten auf, dass außer uns hier niemand zu Fuß unterwegs war. Aber es ist ja alles gut gegangen.

Zum Abendessen gab es Beer Butt Chicken, also über Bierdosen gestülpte und dank dieser Zubereitungsmethode unglaublich zarte Hähnchen, die wir bei angeregten Gesprächen über die Familie und das Reisen vertilgten.

Am Samstag mussten wir uns dann bereits verabschieden. Wir verließen das Haus als Letzte, Judy-Ann war bereits beim Treffen der Irish-Terrier-Besitzer. Dieses Mal vergewisserten wir uns mehrfach, dass die Haustür auch wirklich verschlossen war und machten uns - etwas traurig - auf den Weg. Aufgrund der vielfachen Empfehlungen nahmen wir - trotz der dort nicht gerade rosigen Wetteraussichten - die Route über das Nordufer des Lake Superior nach Toronto.

Die letzten drei Tage waren zweifellos ein Highlight dieser Reise. Ich hoffe, dass es irgendwann ein Wiedersehen gibt. An den gegenseitigen Einladungen mangelt es jedenfalls nicht. 


























2 Kommentare:

  1. Schön, wenn man so herzlich aufgenommen wird, obwohl man noch nie im Leben Kontakt miteinander hatte!
    Was ist das für ein tolles Gemäde?

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  2. Ich bin der Anonymus - Mama Sonja
    Mit Google-Konto funktioniert es leider nicht.

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