Freitag, 7. Juni 2024

Perspektivwechsel

Die zurückliegenden Fahrtage waren geprägt durch das angespannte Beobachten von Niederschlagsradaren und das Einarbeiten der daraus gewonnenen Erkenntnisse in unsere Routenplanung. Nachdem das beim Losfahren in Sudbury gleich mal spektakulär schief ging und wir in einem Gewitterschauer alarmmäßig auf dem Absatz kehrt machen mussten, hatten wir spontan Parry Sound auf unserer kleinen Navi-Karte ausgesucht, weil es schön gelegen zu sein schien. Zumindest mal am See. Und recht hatten wir. Es wurde ein ungewöhnlich kurzer Fahrtag, waren wir doch (natürlich wetterbedingt) recht spät losgefahren und kamen schon am frühen Nachmittag an. Nur kurz abgeladen und dann ging’s gleich los zur Erkundung des Ortes. Am See fanden wir eine sonnenbeschienene Restaurantterrasse, die natürlich sofort mit unserer Anwesenheit beglückt wurde. Als wir unsere regengeplagten Seelen von der Sonne aufheitern ließen, fielen uns ein paar Wasserflugzeuge auf, die quasi direkt neben uns standen. Irgendwas mit Airways war darauf geschrieben. In Vancouver hatten wir in den letzten Jahren immer wieder den vielen Wasserflugzeug hinterhergeschaut und jedes, aber auch wirklich jedes Mal gesagt „Das müssen wir irgendwann auch mal machen.“ Um es dann nicht zu machen.

Auf der Restaurantterrasse in Parry Sound aber war der Nachmittag noch jung und wir bestens gelaunt, so dass wir einfach mal nachfragten, ob da nicht vielleicht was geht. Und siehe da, wir konnten direkt los und selbst die Preise untertrafen unsere Erwartungen, wir konnten es kaum glauben. Vor dem Flug wurden wir noch gewogen und es gab eine kleine Sicherheitseinweisung. Die Platzverhältnisse im Flugzeug waren ungefähr so wie in einem Fiat Cinquecento aus den Siebzigern. Es war so eng, dass man nicht im eigentlichen Sinne einsteigen konnte, sondern sich eher hereinschlängeln, winden und quetschen musste. Kopf anstoßen inbegriffen. Auf dem Sitz angekommen, war es dann aber leidlich bequem, außer dass der Pilot so nah neben mir saß, dass ich aufpassen musste, nicht ständig seinen Arm oder sein Bein zu streifen. Dann kam der Start. Es wurde laut und das Flugzeug fing an, sich in Bewegung zu setzen. Je schneller es wurde, desto härter wurden die Schläge, die die Schwimmer auf den kleinen Wellen erzeugten. Das Wasser spritzte hoch, es war ein echtes Spektakel. Und plötzlich hoben wir ab und das Gespritze und Gewackel hörte mit einem Mal auf. In der Luft war dann erkennbar, warum die Gegend 30.000 Islands genannt wird. Inselchen, so weit das Auge reichte und wenn eine groß genug war, dass man ein Haus darauf bauen konnte, stand auch eins drauf. Bei Mini-Inseln musste sich die Hausgröße auch schon mal nach der zur Verfügung stehenden Grundfläche richten. Solche Cottages werden laut Aussage unseres Piloten regelmäßig zu Preisen jenseits von einer Million verkauft. Eine Heizung gibt’s dafür allerdings meist nicht. Der Flug ging (viel zu) schnell vorbei und die Landung verlief umgekehrt wie der Start. Gespritze und Gewackel, dann Ruhe. Nachdem wir es aus dem Flugzeug rausgeschafft hatten, bemächtigte sich ein breites Grinsen unserer Gesichter. Was für ein tolles Erlebnis! Das werden wir so schnell nicht vergessen.

Nach Burger und Bier auf einer weiteren sonnenbeschienen Terrasse liefen wir zurück zum Motel und stellten fest, dass sich zwei weitere Motorradreisende dort eingemietet hatten. Hadar und Asi, ursprünglich aus Israel stammend, hatten einige Jahre in Australien gelebt und dort kurzerhand die Zelte abgebrochen und alles verkauft, um eine mehrjährige Weltreise anzutreten, die ein paar Wochen vorher in Los Angeles gestartet war. Der Kontakt war schnell hergestellt und wir hatten uns viel zu erzählen. Andere Motelgäste kamen noch hinzu und der Abend wurde immer lebhafter. Es war das Motelpersonal, was dem internationalen Austausch mit Hinweis auf die Uhrzeit ein Ende setzen musste. Von hier aus nochmal eine Entschuldigung an all die anderen Gäste, die eigentlich schlafen wollten und das unseretwegen evtl. nicht konnten. Sorry! 

Donnerstag, 6. Juni 2024

Fremdgesteuert

Die Routenplanung der nächsten Tage wird entscheidend durch das Wetter bestimmt.


Wir kommen bei Regen in Schreiber an und fahren bei Regen am nächsten Morgen wieder ab. Erneut erklimmt das Thermometer nur mit Mühe einen zweistelligen Wert. Der Highway führt entgegen unserer Erwartung die meiste Zeit gar nicht direkt am Seeufer des Lake Superior entlang, so dass man nur ab und zu mal einen Blick auf die malerische Küste erhaschen kann. Spektakulär ist die Szenerie aber trotzdem: beidseits der Straße liegen dichte Nadelwälder, durchzogen von wilden Flüssen und türkisfarbenen Seen, über denen noch die Nebelschwaden liegen. Und plötzlich steht ein riesiger Elch am Wegesrand. 


Viele Orte gibt es nicht, bis zu unserem Tagesziel Sault St. Marie sind es knapp 500 km. Auf kanadischen Highways gilt zuallermeist ein Tempolimit von 90 km/h. Wir heften uns in sicherer Entfernung an einen der riesigen Pick-up-Trucks, der deutlich zu schnell unterwegs ist, und hoffen, dass eine etwaige Polizeikontrolle ihn erwischt und nicht uns. Große Distanzen zwischen den Orten korrelieren mit einer geringen Tankstellendichte, wie wir irgendwann feststellen. Wir müssen, um den Verbrauch zu minimieren, abreißen lassen und erreichen die nächste Tankstelle mit gerade mal noch einem verbliebenen Liter im Tank. Das Wetter ist zwischenzeitlich umgeschlagen, es liegen sonnige 30 Grad an. Wir genehmigen uns eine Kugel Eis, die so groß ist, dass sie den Kalorienbedarf des ganzen Tages deckt. 


Fürs Abendessen suchen wir uns das „Whisky-Barrel“ aus. Das verspricht Abwechslung, zum Craft Beer gibt’s mal keine Burger, sondern Poutine und Scotch Eggs. Während Matti bereits ins Hotel zurückgeht, zwingt mich meine Uhr noch zu etwas Bewegung. Ich gehe auf dem Boardwalk am Saint Marys River spazieren und erlebe einen beschaulichen Sonnenuntergang. 


Am nächsten Tag erreichen wir mit Lake Huron den nächsten der Great Lakes. Ein Abstecher auf die vorgelagerte und vielfach angepriesene Manitoulin Island entfällt, da sich dort eine prominente Gewitterzelle hartnäckig hält. Stattdessen steuern wir den nächsten größeren Ort Sudbury an, lassen uns aber von unserem Garmin ein „Adventurous Routing“ vorschlagen. Dies führt zwar zu einem Umweg von circa 100 km, dafür aber über kleine, einigermaßen kurvige und malerisch gelegene Sträßchen. Unterwegs retten wir eine sich auf dem Asphalt sonnende Schnappschildkröte vor dem sicheren Unfalltod und kommen gerade rechtzeitig vor dem einsetzenden Regen in unserem Motel an. Dies liegt an einem viel befahrenen Highway, aber das Restaurant in der Nachbarschaft hat sehr gute Bewertungen. 


Es ist wie verhext: das Restaurant nebenan hat geschlossen, der Pizzabringdienst muss herhalten. Wir schwanken zwischen der „Godfather“ und der „Let‘s eat Meat“, zur Bestimmung der adäquaten Pizzagröße (in Zoll) nehmen wir an unserem Hinterrädern Maß. 


Morgen wollen wir die Hälfte des Weges wieder zurückfahren und doch noch nach Manitoulin Island übersetzen. 








Montag, 3. Juni 2024

Neue Referenz

Das Plädoyer für die nördliche Route war so uneingeschränkt und leidenschaftlich gewesen, dass wir die Wetteraussichten (nördlich der Seen regnerische 12 Grad, südlich der Seen sonnige 30) ignoriert hatten und gen Norden aufgebrochen waren. Wir sind uns mittlerweile nicht mehr so sicher, ob dies die richtige Entscheidung war.

Die Wetteraussichten für heute waren schrecklich. Und da Matti zudem auch ein bisschen erkältet ist, beschlossen wir, nicht weiterzufahren und noch eine Nacht in Thunder Bay zu bleiben. Leider wurde uns ein Strich durch die Rechnung gemacht, unser Hotel war bis auf ein Zimmer mit einem Bett komplett ausgebucht (was nicht nur aufgrund der Erkältung nicht in Frage kam).

Insofern haben wir uns dann doch auf die Mopeds geschwungen und sind bis in den kleinen Ort Schreiber gefahren, während bei Temperaturen um die 10 Grad der halbe See über uns ausgegossen wurde. Landschaft war angesichts tiefhängender Wolkendecken, böiger Winde und des Starkregens nicht auszumachen. Wir hätten die Fahrt schon einen Ort früher beenden können, aber die Bewertungen für die hiesige Brauerei waren so gut; also hielten wir durch. Die Brauerei ist, wie sich vor Ort herausstellte, leider geschlossen. 😡

So liegen wir nun im Bett, die Heizung läuft auf Hochtouren und die Klamotten triefen den Boden voll. Matti beschrieb den heutigen Tag als die „neue Referenz für Motorradfahrwetterschrecklichkeit“.






Samstag, 1. Juni 2024

Familienbande

Im Zuge der Reisevorbereitungen hatte mich mein Bruder Shenja gefragt, ob wir in Minneapolis vorbeikommen werden und - falls ja - ich vorhabe, die dort ansässige Familie zu besuchen. 

Familie in Minneapolis? Darüber brauchte ich erstmal ein ausgiebiges Briefing. Shenja beschäftigt sich seit vielen Jahren mit unserer Familiengeschichte; er durchforstet uralte Kirchenverzeichnisse und Archive, studiert Briefe und Dokumente, entziffert alte Schriften und hat sogar ein Buch darüber geschrieben. 

Mein Großvater, Jahrgang 1911, hatte mit uns nie über seine Jugendjahre gesprochen. Wir wussten nur ganz allgemein, dass er und seine jüdische Familie von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Aber das ganze Ausmaß, insbesondere dass über 30 Familienmitglieder in den Ghettos und Konzentrationslagern von Riga und Theresienstadt umgebracht wurden, war mir bislang nicht bekannt. Auch dass es sein Onkel Sigmund und dessen Familie gerade noch rechtzeitig geschafft hatten, der Deportation und Ermordung durch die Nazis zu entkommen und nach Südafrika zu fliehen, erfuhr ich erst durch die Recherchen von Shenja. 

Sigmund ist nach dem Krieg von Südafrika in die Vereinigten Staaten übergesiedelt, und seine Nachfahren, Judy-Ann und Robin, leben mittlerweile in den Twin Cities Minneapolis/St. Paul; Shenja steht mit ihnen in losem Kontakt.

Nach einer kurzen Rücksprache mit Matti war klar, dass ich die beiden auf jeden Fall kennenlernen wollte und wir die Twin Cities in unsere Reiseplanung aufnehmen werden. Über Shenja wurde der E-Mail-Kontakt zu Judy-Ann hergestellt, die uns kurzerhand ein Zimmer in ihrem Keller anbot. Sie erzählte uns später, dass ihre Freundinnen sie gefragt hatten, ob sie noch ganz bei Trost sei, allein in ihrem Haus lebend, zwei wildfremde Männer bei sich aufzunehmen (es könne ja jeder kommen und mal eben behaupten, man sei miteinander verwandt. Bei Lichte betrachtet haben die Freundinnen damit auch nicht ganz unrecht. Aber es ist ja alles gut gegangen). 

Insofern reisten wir am Mittwoch Nachmittag bei ihr an, besorgten vorher noch schnell ein paare Biere, saßen bei strahlendem Sonnenschein und selbst-gebackener Pizza in Judy-Anns Garten, glichen unsere Lebensläufe im Schnelldurchlauf miteinander ab und gingen mit Aiden, ihrem Irish-Terrier, (unerlaubterweise) auf dem örtlichen Golfplatz Gassi. Die Chemie stimmte sofort, ich hatte das Gefühl, dass wir uns schon ewig kennen und nur eben mal etwas aus den Augen verloren haben. Ich glaube, Judy-Ann erging es ähnlich. 

Als sehr bewegend empfand ich den Austausch über die vielen kleinen Details in unserer Familiengeschichte. Judy-Ann gab mir ein Buch, das ihre Mutter über die Flucht, aber auch die Deportation der Großmutter geschrieben hatte, zum Lesen (wer Interesse hat, bitte kurze Nachricht in die Kommentare. Ich schicke dann gern eine PDF-Kopie zu). Und ich konnte meinerseits - dank Shenja - nicht nur den Familienstammbaum entästeln, sondern über das Schicksal der einzelnen Familienmitglieder berichten und sogar Fotos vorzeigen. 

Wir lagen so gut im Zeitplan, dass wir es uns leisten konnten, drei Tage in St. Paul zu bleiben. Am Donnerstag fand bei Judy-Ann der allmonatliche Buchklub statt. Den überbrückten wir mit einem Major-League-Baseballspiel zwischen den Minnesota Twins und den Kansas City Royals, das die Heimmannschaft, von uns leidenschaftlich bejubelt (und in völliger Unkenntnis der Regeln), gewann. Anschließend fuhren wir noch eine ausgedehnte Runde durch das Umland von Minneapolis, entlang der zahlreichen Seen (Minnesota trägt den Beinamen „Land der zehntausend Seen“), an deren Ufern die Schönen und Reichen mit ihren Häusern - nein, Villen - nein, Palästen - Schönheit und Reichtum eindrucksvoll zur Schau stellen. Unser ganzes schweres Gepäck hatten wir in St. Paul gelassen, und unsere treuen Gefährten wedelten ganz leichtfüßig durch die wenigen Kurven! Rechtzeitig zum allabendlichen Gassi über den Golfplatz waren wir wieder zurück. Und wurden darüber unterrichtet, dass wir das Haus während Judy-Anns Abwesenheit ohne den uns zugeteilten Schlüssel und bei sperrangelweit geöffneter Haustür verlassen hatten. 😬

Für den nächsten Tag hatten wir einen Besuch des Minneapolis Institute Of Art, eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Stadt, eingeplant. Vorher gab es noch ein gemeinsames Frühstück, bei dem Matti betonte, wie sehr er doch selbst-gebackene Scones mag. Das Frühstück wurde augenblicklich eingestellt: „Ihr wollt Scones?“ Umgehend suchte Judy-Ann alle Zutaten zusammen und begann, Scones für uns zu backen. Dabei meinte Matti eigentlich die English Muffins, die sie schon am Vortag für uns gebacken hatte und von denen ich mir gerade eines schmieren wollte. Was mir angesichts der wenig später bereits im Backofen duftenden Scones unmissverständlich untersagt wurde (was zudem kein Problem sein konnte, da ich ja gerade erst erwähnt hatte, normalerweise ohnehin nicht zu frühstücken) 😉. 

Das Museum war den Besuch uneingeschränkt wert, wenngleich wir es in den zweieinhalb Stunden, nach denen der Aufmerksamkeitsvorrat erschöpft war, gerade einmal geschafft hatten, einen Teil der Ausstellung zu besichtigen. Anschließend liefen wir noch anderthalb Meilen durch das Mexikanische Viertel zum nächsten Weinhändler, um für das geplante Abendessen, zu dem auch Robin und seine Ehefrau kommen wollten, den Riesling zu besorgen. Uns fiel erst nach einigen Minuten auf, dass außer uns hier niemand zu Fuß unterwegs war. Aber es ist ja alles gut gegangen.

Zum Abendessen gab es Beer Butt Chicken, also über Bierdosen gestülpte und dank dieser Zubereitungsmethode unglaublich zarte Hähnchen, die wir bei angeregten Gesprächen über die Familie und das Reisen vertilgten.

Am Samstag mussten wir uns dann bereits verabschieden. Wir verließen das Haus als Letzte, Judy-Ann war bereits beim Treffen der Irish-Terrier-Besitzer. Dieses Mal vergewisserten wir uns mehrfach, dass die Haustür auch wirklich verschlossen war und machten uns - etwas traurig - auf den Weg. Aufgrund der vielfachen Empfehlungen nahmen wir - trotz der dort nicht gerade rosigen Wetteraussichten - die Route über das Nordufer des Lake Superior nach Toronto.

Die letzten drei Tage waren zweifellos ein Highlight dieser Reise. Ich hoffe, dass es irgendwann ein Wiedersehen gibt. An den gegenseitigen Einladungen mangelt es jedenfalls nicht.