Mittwoch, 7. Juni 2017

Reisetagebuch

Unseren letzten Bericht hatten wir schon am 29. Mai veröffentlicht. Seitdem ist mehr als eine Woche vergangen und viel passiert. Wir haben mittlerweile Kasachstan und Russland hinter uns gelassen und sind in der Mongolei angelangt. Die ereignisreiche vergangene Woche möchte ich hier Revue passieren lassen.

Dienstag, 30. Mai: Mittlerweile von den katastrophalen Straßenzuständen vollkommen weichgekocht und der eintönigen Landschaft überdrüssig erreichen wir am Abend die Stadt Ust-Kamenogorsk, kasachisch Öskemen bzw. Өскемен. Wir sehnen zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur noch die Ausreise aus Kasachstan herbei, als ich auf der Suche nach unserem Hotel eine junge Frau nach dem Weg frage. Ksenia, so heißt sie, bietet uns spontan an, doch mit zu ihr zu kommen. Und so teilen wir für die nächsten zwei Tage unser Lager mit Nadia, Ksenia, dem siebenjährigen Danil, vier Katzen und zwei Hunden.

Später am Abend gesellen sich der sehr unterhaltsame Andrej und seine Freundin Marina hinzu, wir löschen die Bierbestände des Magasins um die Ecke, zum Abendessen gibt es Kartoffeln und sauer eingelegte Pilze, die Banja wird angeheizt, und nach einer Stunde waschen wir uns den Staub von und dreschen uns mit Eichenzweigen die Verspannungen aus den Körpern. Mit den kläglichen Resten meines Schulrussischs und den noch viel kläglicheren Übersetzungen von Google betreiben wir mühsam Konversation und nach viel zu viel Bier fallen wir gegen drei Uhr in einen komatösen Schlaf, aus dem wir von Harley (Davidson), einem der Hunde, unsanft bereits um acht wieder geweckt werden.

Mittwoch, 31. Mai: Bis zum frühen Nachmittag laboriere ich an den Folgen des Bierkonsums vom Vorabend. Nicht so Andrej. Der steht bereits um halb zehn fit und gut gelaunt auf der Matte, um uns abzuholen. Andrej betreut Automaten, an denen man Guthaben auf SIM-Karten aufladen kann. Und so fahren wir den ganzen Vormittag einen Laden nach dem anderen an, in die Andrej immer für jeweils bis zu fünf Minuten verschwindet, um die Einnahmen abzuholen; für mich eine willkommene Gelegenheit, in ein kurzes Nickerchen zu fallen. Mittags, nach vollbrachtem Tagwerk begleitet uns Andrej zu einer Versicherung, bei der wir noch schnell die obligatorische Haftpflichtversicherung abschließen sollen. Von allen Seiten wird uns dabei versichert, welch großes Glück wir eigentlich hätten. Denn wäre entdeckt worden, dass wir ohne Versicherung unterwegs sind, wäre das mindestens sehr teuer geworden.

Am frühen Nachmittag holen wir Marina ab und fahren nach Северное, das nördliche Umland Öskemens. Welches Unrecht hatten wir Kasachstan getan - von wegen eintönige Landschaft! Sanft geschwungene, mit saftigem Grün bewachsene Hänge, ausgedehnte Wälder, klare Bäche, abertausende Schmetterlinge und ein Vogelgezwitscher, wie man es aus der Heimat gar nicht mehr kennt.

Donnerstag, 1. Juni: Das Angebot der Mädels, mit ihnen am Wochenende zum Biker-Festival nach Semei (Semipalatinsk) zu fahren, müssen wir aufgrund unseres straffen Zeitplanes leider ausschlagen. So packen wir am Morgen unser Geraffel zusammen, ich unternehme mit dem ausgewiesenen Motorradfan Danil noch eine kurze, zwanzigminütige Ausfahrt, und dann begleitet uns Andrej bis zum Ortsausgang.

Am frühen Nachmittag stehen wir bereits an der Grenze zu Russland. Der Grenzübertritt verläuft insgesamt unspektakulär. Nur ich werde, nachdem ich mit meinen rudimentären Russischkenntnissen auf mich aufmerksam gemacht habe, in ein separates Zimmer gebeten und von einem Geheimdienstoffizier einer peinlichen Befragung unterzogen. Offensichtlich kann ich alle Fragen richtig beantworten und nach weniger als einer Stunde werden wir ins Land entlassen. Noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit stellen wir unsere Zelte im als solchen ausgewiesenen Erholungsgebiet (зона отдыха) am Fluss Чарыш auf, sägen mit unseren Multitools trockene Äste von den Bäumen, entzünden ein Lagerfeuer, essen Linsensuppe, testen die Wirksamkeit unseres Mückenschutzes und verziehen uns bei aufziehendem Gewitter in unsere Zelte.

Freitag, 2. Juni: Wir sitzen in unserer зона отдыха gemütlich beim Frühstück, als mehrere Polizeiwagen anrücken, neben uns Zielscheiben aufstellen und mit ihren Dienstpistolen zu schießen beginnen!

Wir beschleunigen unsere Abreise und nehmen Kurs auf unser heutiges Ziel, Bijsk, genauer gesagt das Grundstück von Igor, dem Präsidenten des hiesigen Motorradclubs (байк-пост). Hierher hatten wir unsere Stollenreifen, die wir vor der Mongolei aufziehen wollten, schicken lassen. Die Post hat in Russland aber einen ähnlichen Ruf wie bei uns die Bahn. Und sie wurde ihrem Ruf tatsächlich gerecht. Bereits Wochen vorher in Moskau verschickt, war der letzte Reifen erst am Tag vor unserer Ankunft in Bijsk angekommen. So lagen die Reifen tagelang in irgendwelchen Verteilerzentren fest, dann wurden die Pakete getrennt und die Reifen einzeln weitergeschickt, und nach Einschätzung der Einheimischen sollten wir uns schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, die alten, abgefahrenen Schluffen weiterzufahren. Aber glücklicherweise kam es ja anders.

Igor hat auf seinem Grundstück eine gut sortierte Werkstatt, er selbst ist aber auf einem 200 km entfernten Biker-Festival. Wir dürfen jedoch sein Werkzeug nutzen und machen uns voller Tatendrang an die Arbeit. Schließlich hatten wir in der Türkei nach meinem Platten ja schon einen Schlauch gewechselt und außerdem mit tollem Werkzeug aus den USA unser Reisevakuum gefüllt. Wir scheitern grandios. Wir bekommen bei Matti nicht einmal den Reifen von der Felge. Sämtliche, noch so große Montiereisen bewirken nichts, wir legen das Hinterrad sogar unter den Ständer der Transalp und drücken ihr ganzes Gewicht auf den Reifen. Es hilft einfach nichts. Also beschließen wir, am nächsten Tag mit dem Taxi zur Reifenwerkstatt zu fahren, bauen wenigstens alle Räder aus und gehen zu Plan B, Bier und Chips, über.

Samstag, 3. Juni: Mit dem Sohn von Igor fahren wir, wie am Vorabend geplant, zur nächsten Шиномонтаж. Die jedoch gibt nach nach kurzer Zeit auf, sie bekommt den Reifen, auch mit schwerem Gerät, nicht von Mattis Felge. Jetzt ist zwar unser Selbstbewusstsein vollends wiederhergestellt, aber es ist Samstagnachmittag und wir haben immer noch keine neuen Reifen. Schnell geht es weiter zur nächsten Werkstatt, die muss es doch jetzt bitte richten. Und ja, mit viel Kraft, Geschick und Improvisation sind wir nach knapp zwei Stunden neu besohlt. Jetzt heißt es schnell zurück und die Bikes zusammenbauen, wir wollen schließlich noch einige Kilometer hinter uns bringen. Allerdings ist Igor mittlerweile heimgekehrt und hat für sich und seine Gäste bereits Bier und Snacks besorgen lassen. Das war’s dann für heute mit der Weiterfahrt.

Sonntag, 4. Juni: Beim Einbau des Vorderrades hatte ich festgestellt, dass mein Lenkkopflager ausgeschlagen ist. In Verbindung mit den neuen Stollenreifen ergibt dies ein sehr unkomfortables Fahrverhalten. Das Motorrad kippt bereits bei leichter Schräglage ab und beginnt um das Vorderrad gefährlich zu flattern. Das trübt anfangs den Fahrspaß doch deutlich. Und dies gerade heute, da wir eine der schönsten Straßen der Welt, den Tschuiski-Trakt durch das Altai-Gebirge, fahren wollen. Die Landschaft ist einfach atemberaubend. Beiderseits der Straße, die in vielen Kurven dem Fluss Kattun folgt, weitet sich ein üppig bewachsenes Tal, dahinter erheben sich steil wunderschöne Berge, manchmal waldbewachsen, manchmal felsig. Wieder begleiten uns (nicht übertrieben) Millionen von Schmetterlingen, außen weiß und innen gelb (oder vor und auf nach dem Auftreffen auf den Helm). Nach ein paar hundert Kilometern sind die Reifen angefahren, der Mut und die Schräglage steigen. Hier zu fahren, ist einfach irre. Die Nacht verbringen wir in einer kleinen Holzhütte am Fluss, genießen die russische Banja und Gitarrenmusik am Lagerfeuer.

Montag, 5. Juni: Es sind nur noch ein paar Kilometer bis zur russisch-mongolischen Grenze. Die Fahrzeuge werden einzeln abgefertigt und teilweise penibel durchsucht. Das dauert. Als wir endlich an der Reihe sind, fordert mich der russische Offizier sehr barsch auf, meine Zollerklärung, die wir bei der Einreise ausgefüllt und abgestempelt bekommen haben, vorzulegen. Wir haben an der kasachisch-russischen Grenze aber nichts dergleichen bekommen. Der Beamte knallt mir daraufhin meinen Pass hin und weigert sich, mich abzufertigen. Was jetzt? Wir durchsuchen nochmal unsere ganzen Unterlagen und probieren es mit der kirgisischen Erklärung vom letzten Jahr. Es funktioniert. Der Beamte ist zwar skeptisch, dass wir bzw. das Motorrad ein ganzes Jahr im Land gewesen sein sollen, aber es ist das gesuchte Dokument. Kirgisien, Kasachstan und Russland bilden eine Zollunion, die Zollerklärung gibt es daher nur bei Einreise ins erste dieser Länder. Zwischen dem russischen und dem mongolischen Grenzposten liegt eine 20 km breite Pufferzone. In dieser Zone wird die Straße, je näher man dem mongolischen Teil kommt, immer schlechter und die Temperatur fällt plötzlich von 19 Grad auf vier Grad und es beginnt ein heftiger Schneeregen. Innerhalb kürzester Zeit sind wir durchnässt. Welcome to Mongolia! Hier treffen wir auch Diederik, einen in Italien lebenden Belgier, der mit Hilfe eines mongolischen Bauern bei diesen Bedingungen gerade einen platten Reifen an seiner GS geflickt hat. Wir beschließen, gemeinsam weiter zu fahren. Die Grenzformalitäten auf mongolischer Zeit sind undurchsichtig. Wir müssen diverse Erklärungen ausfüllen, diese werden mit diversen Stempeln, die alle Beamten an einem Armband mit sich herumtragen, bedruckt. Es wirkt alles eher zufällig und unorganisiert. Wir hoffen, dass wir wirklich alle Unterlagen beisammen haben, schließlich wollen wir die Motorräder bis zum nächsten Jahr im Land belassen.

Unser Ziel ist das 100 km entfernte Olgii. Die Piste ist derart schlecht, dass wir auf eine der bereits vielen mehr oder weniger parallel verlaufenen Nebenspuren ausweichen. Nach ungefähr der Hälfte der Strecke bekommen wir Asphalt und rollen am frühen Abend in der Stadt ein und beziehen Quartier im Blue Wulf Ger Camp. Beim Abendessen lernen wir Fabienne aus Paris kennen, die Abenteuerurlaube u.a. in der Mongolei organisiert und uns wertvolle Tipps und Kontaktadressen gibt.

Dienstag, 6. Juni: Diederik, der in zwei Monaten einmal um die Welt fahren möchte, und nur zwei Wochen von Italien bis hierher benötigt hat, beschließt umzukehren und über Russland an den Pazifik zu fahren. Er muss am 24. Juni die Fähre in Wladiwostok bekommen und ist auf Piste einfach zu langsam.

Gerade als wir losfahren wollen, bemerkt Matti, dass eine Schraube an meinem Kofferträger fehlt. Es ist mittlerweile die sechste, die ich bei der Rüttelei verloren habe. Wir ersetzen die Schraube und prüfen dabei auch gleich alle weiteren. Die ersten 70 km sind geleckter Asphalt, vorbei an atemberaubenden Landschaften. Was uns dann für die nächsten 150 km erwartet, ist einfach nur schlimm. Die Piste ist in einem erbärmlichen Zustand: bis zu 15 cm tiefes Waschbrett, darüber muss man mit mindestens 60 Sachen fahren, sonst zerreißt es einem gefühlt das Motorrad. Dann aber kommen immer wieder sehr sandige Stellen, in denen das Motorrad nur begrenzt das macht, was man gerne möchte. Gerät man dort mit Waschbrettgeschwindigkeit hinein, geht erstmal kräftig die Pumpe. Hinzu kommen tiefer Schotter, eine Flussdurchfahrt und immer wieder Waschbrett und Sand, Waschbrett und Sand. Völlig erledigt erreichen wir Khovd und steigen im Karaoke-Hotel ab. Hier gibt es nach sechs Tagen endlich mal wieder eine heiße Dusche. Beim Abendessen lernen wir Cecilia aus Norwegen, die als Wahlbeobachterin für die OECD im Land ist, kennen. Es wird ein sehr interessanter und unterhaltsamer Abend. Da in der Mongolei weder Englisch noch Rusisch gesprochen werden, sind wir für die angebotene Hilfe von Cecilia, die mit Dolmetscher und einem einheimischen Fahrer unterwegs ist, sehr dankbar, hoffen jedoch, diese nicht in Anspruch nehmen zu müssen.

Mittwoch, 7. Juni: Wir prüfen vor der Abfahrt sämtliche Schraubverbindungen. Das ist bitter nötig, unter anderem hat sich der Gabelstabilisator der Transalp gelockert. Mein Scottoiler ist leider auch defekt und die Kette staubtrocken. Ansonsten wird es ein ruhiger Fahrtag. Die 460 km bis Altay sind komplett asphaltiert und in fünf Stunden erledigt. Wir beziehen das beste Hotel am Platz und können endlich Wäsche waschen (lassen); saubere T-Shirts und Socken habe ich schon seit einer Woche nicht mehr. Morgen verlassen wir die Südroute und wechseln auf die landschaftlich schöne, fahrerisch aber anspruchsvollste Zentralroute.

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